Zeitmanagement für Antihelden

"Ach, du wohnst auch noch hier?"

Johannes' Spruch, als ich zwei Tage nach meiner Rückkehr aus Frankreich zu ihm ins Bett gekrochen komme ist zwar nur im Scherz gemeint, trifft aber genau ins Schwarze.

Ein paar Tage vor der WM habe ich erfahren, dass eigentlich von mir erwartet wird, dass ich Anfang Oktober für 2 Wochen ins Trainingslager nach Lanzarote fahre.
Ich schnappe mir einen Kalender und streiche mit einem Textmarker alle Tage an, wo Trainingslager geplant sind, wo ich die Olympia-Vorbereitung vermute und wo internationale Wettkämpfe stattfinden.

Insgesamt sind das - ohne Wochenenden und Feiertage - 94 Tage von jetzt bis Mitte August.

Ich bin eine normale Arbeitnehmerin mit 30h-Vertrag und 30 Tagen Tarifurlaub im Jahr. Davon sind noch genau 5 übrig.

Nach einigem Herumüberlegen fällt mir als einzig sinnvolle Lösungsmöglichkeit ein, über den Winter ein viermonatiges Sabbatical einzulegen.

Mein Bereichstrainer ist zwar nicht glücklich, was besseres fällt ihm aber auch nicht ein.

Mein Chef reagiert gelassen. "Also wenn du nach Lanzarote musst, dann geh doch. Hast ja noch ein paar Tage Urlaub und ein paar Gleitzeitstunden. Ich frag' gleich mal, wie man so ein Sabbatical beantragt."

Ein paar Tage später sind die Flüge gebucht, das Sabbatical ist beantragt und ich bin ein einziges Häufchen Elend.

Ich habe mir gut überlegt, wie es gehen kann und versucht, die beste Möglichkeit zu finden. Dafür habe ich mich entschieden. Und trotzdem macht mir das, was da auf mich zukommt Angst.

Ich werde vier Monate lang nicht zur Arbeit gehen (obwohl es mehr als genug zu tun gäbe).

Was mache ich dann eigentlich die ganze Zeit? Meinem Gehirn beim schrumpfen zuschauen?

Ich werde 16 Monate lang von drei Vierteln meines Gehaltes leben. (Hier mache ich wirklich aus Mücken Elefanten, ich weiß.)

Trotzdem werde ich, wenn ich direkt nach dem Ende der Ruderwettkämpfe aus Rio abreise, einen Stand von minus vierzig Stunden auf dem Gleitzeitkonto haben - Wenn ich denn überhaupt da hinfahre. Denn das kann mir niemand garantieren, egal wie aberwitzig der Aufwand auch sein mag, den ich da reinstecke.
Und letztlich zielt all mein Zeitmanagement doch nur darauf ab, zur Verfügung zu stehen, wenn das von mir erwartet wird. Da bin ich nun wieder, die Vertreterin der Generation Y, die niemanden enttäuschen kann.
"Niemand, der sein Bestes gegeben hat, hat es später bereut." Manchmal sind Weisheiten, die man im Internet findet auch die letzten Grashalme, an die man sich klammert.

Was für ein Glück, dass ich Gerhard und Svenja und Johannes um mich habe, die mir zum einen meine eigenen Argumente für meine richtige, vernünftige Entscheidung vortragen und mir zum anderen nach Kräften meine Gleitzeit schönrechnen. So geht es auf der Achterbahnfahrt meiner Gefühle auch mal zeitweise bergauf.

Ich bin gefühlt gerade zu Hause angekommen. Gerade ist der fremde Mann neben mir im Bett wieder mein geliebter Partner geworden. Gerade habe ich einen riesigen Stapel Versuchsmaterial von meinem Schreibtisch geräumt und mich daran erinnert, für welche Themen ich zuständig bin.

Ich habe angefangen, zu arbeiten, zu kochen, zu putzen, war mit meinem Freund einkaufen. Ich hatte knapp drei Wochen Normalität, die auch erst in den letzten paar Tagen anfing, sich wie Normalität, wie mein Leben anzufühlen.

Im Wohnzimmer sind es morgens 16 Grad, aber ich habe den Klempner noch nicht erreicht, damit der mal vorbeikommt und die Heizung wartet. Das neue Regal ist aufgebaut und liegt mitten im Wohnzimmer, weil ich noch nicht dazu gekommen bin, passende Löcher in die Wand zu bohren. In der Strukturmontage gibt es seit Wochen Probleme mit einem von mir betreuten Fertigungshilfsmittel.

Und ich fliege nach Lanzarote.

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